Ein Kanzler im Schatten der Angst – Wie Friedrich Merz mit seiner „Stadtbild“-Rhetorik gefährliche Narrative bedient

Mit seiner jüngsten Äußerung über das „Stadtbild“ hat Friedrich Merz eine Linie überschritten, die für einen Bundeskanzler untragbar ist. Er sprach davon, dass sich das Stadtbild in vielen deutschen Städten „verändere“ und führte als Begründung unter anderem „Gewalt gegen Frauen“ an. Anstatt Einsicht zu zeigen, reagierte er auf Kritik mit Trotz und bekräftigte seine Worte. Doch wer genauer hinschaut, erkennt: Diese Rhetorik ist nicht nur populistisch, sondern auch sachlich falsch und politisch brandgefährlich.

1. Die Realität: Gewalt gegen Frauen passiert nicht im Stadtbild

Wenn Merz über Gewalt gegen Frauen spricht, dann suggeriert er, dass die Gefahr von außen kommt – von Fremden, von Migranten, von denen, die das Stadtbild „verändern“. Doch die Zahlen erzählen eine andere Geschichte.

  • Laut dem Bundeskriminalamt (BKA) wurden im Jahr 2023 rund 256.000 Fälle von Partnerschaftsgewalt registriert.
  • In etwa 80 % der Fälle sind die Täter Männer, die mit dem Opfer in einer Beziehung stehen oder standen.
  • Über 70 % der Tatverdächtigen sind deutsche Staatsbürger.
  • Die Gewalt passiert in Wohnungen, in Familien, in Beziehungen – nicht auf der Straße.

Wenn ein Bundeskanzler also diese Gewalt als Argument nutzt, um ein „verändertes Stadtbild“ zu problematisieren, dann ist das keine berechtigte Sorge, sondern eine Verschiebung der Schuld. Er lenkt von strukturellen Problemen wie Sexismus, patriarchaler Gewalt und mangelndem Opferschutz ab und richtet die Aufmerksamkeit stattdessen auf ein kulturelles Feindbild.

2. Die Sprache: Wenn konservative Politik rechte Codes übernimmt

Die Rede vom „Stadtbild” ist kein Zufall. Sie ist ein Code. Eine Metapher, die seit Jahren im Vokabular der Rechten auftaucht – meist in Sätzen wie „Das Stadtbild hat sich verändert“ oder „Man erkennt die eigene Stadt nicht wieder“. Damit ist immer dasselbe gemeint: Migration. Hautfarbe. Vielfalt.

Dass ausgerechnet ein Bundeskanzler diese Begriffe verwendet, ist mehr als unglücklich, es ist ein Tabubruch. Zwar grenzt sich Merz öffentlich von der AfD ab und bezeichnet sie als Gefahr für die Demokratie, doch indem er ihre Begriffe übernimmt, normalisiert er ihren Diskurs.

Sprache ist kein Zufall, schon gar nicht in der Politik. Sie setzt Frames, lenkt Emotionen und formt Wirklichkeit. Wenn der Kanzler über das „Stadtbild“ spricht, wird aus Vielfalt Bedrohung, aus Migration Problem. Damit verschiebt sich der gesellschaftliche Konsens Millimeter für Millimeter nach rechts.

3. Die Verantwortung: Macht verpflichtet zu Differenzierung

Merz hätte die Chance gehabt, Verantwortung zu übernehmen – sowohl für seine Worte als auch für die gesellschaftliche Stimmung, die sie auslösen. Er hätte sagen können: „Ja, wir erleben Veränderungen in unseren Städten. Aber Vielfalt ist kein Problem, sondern eine Realität, die wir gestalten müssen – mit Mut, Respekt und funktionierender Integrationspolitik„.

Stattdessen wählte er die einfachste aller Erzählungen: Angst. Und Angst ist immer ein schlechter Ratgeber – vor allem, wenn sie von oben kommt.

Ein Kanzler, der auf Angst statt auf Aufklärung setzt, verliert die moralische Autorität, die sein Amt verlangt. Wenn er mit Suggestionen arbeitet, die Migranten unter Generalverdacht stellen, trägt er dazu bei, dass Rassismus wieder salonfähig wird – mitten in der Gesellschaft.

4. Die Ironie: Die reale Bedrohung kommt von rechts

Merz warnt vor „veränderten Stadtbildern“, doch die Gefahr wächst tatsächlich an anderer Stelle:

  • Rechtsextreme Gewalt hat laut Verfassungsschutzbericht 2024 erneut zugenommen.
  • Angriffe auf Geflüchtete, antisemitische und islamfeindliche Übergriffe – all das ist die Realität, die unsere Städte wirklich verändert.
  • Und sie wird genährt von genau der Rhetorik, die Merz jetzt benutzt: der Rhetorik der Angst, des „Wir gegen die“, der Vorstellung eines bedrohten deutschen Selbst.

Das ist die eigentliche Bedrohung für das gesellschaftliche Stadtbild. Und zwar nicht Migration, sondern die Erosion von Empathie und Solidarität.

5. Was jetzt zählt: Haltung zeigen

Merz’ Worte sind mehr als nur ein politischer Fehltritt. Sie sind ein Symptom für ein tiefer liegendes Problem: Ein Teil der politischen Mitte glaubt, man könne den Rechten Wähler abjagen, indem man ihre Themen übernimmt. Doch wer den Rechten hinterherrennt, landet irgendwann neben ihnen.

Deutschland braucht eine andere Sprache: eine, die Verantwortung übernimmt, differenziert und erklärt. Eine Sprache, die anerkennt:

  • dass Vielfalt eine Realität ist,
  • dass Probleme gelöst werden müssen, ohne Menschen zu Sündenböcken zu machen,
  • und dass Gewalt gegen Frauen nicht durch Migration, sondern durch patriarchale Strukturen entsteht.

Wenn ein Kanzler das nicht versteht, dann gefährdet er nicht nur das Vertrauen der Menschen in die Politik – sondern auch den gesellschaftlichen Frieden.

Fazit: Ein Kanzler, der sich selbst widerspricht

Merz lehnt die AfD ab, warnt vor ihrer Radikalisierung – und verwendet gleichzeitig ihre Sprache. Er will Verantwortung zeigen, verweigert sich aber der Selbstkritik. Er fordert Zusammenhalt, spaltet aber mit ausgrenzenden Begriffen.

Das ist kein Zufall, das ist ein Muster.
Und es ist eines Kanzlers unwürdig.

Deutschland braucht jetzt keine Angstrhetorik, sondern Ehrlichkeit, Empathie und den Mut, die Wahrheit auszusprechen. Denn die Wahrheit ist: Nicht das Stadtbild ist das Problem, sondern die Blickrichtung.

Lorenzo

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2 Kommentare

  1. Es täte eher endlich Not, Integration zu ermöglichen. Wir haben Teilnehmer, die 14 Monate auf Integrationskurse warten mussten, die teils mehr als zwei Stunden mit Bus, Bahn von ihren zugewiesenen Dörfern in die Kleinstadt, in der unsere Sprachschule liegt, gegurkt sind, nur um dann gleichzeitig immer wieder zu Unterrichtszeiten Termine beim Jobcenter reingedrückt zu bekommen.
    Es ist jahrzehntelang im DaF/DaZ-Bereich gespart und verhindert worden, als ich anfing, waren die meisten Freiberufler, Ausbeutung ohne Ende war an der Tagesordnung. Und selbst jetzt hofft man, Integration über Freiwillige abdecken zu können… Jeder Euro, der in Bildung investiert wird, kommt doppelt und dreifach wieder. Aber das ist halt unbequemer als große Reden halten.

    1. Danke, Holger, das trifft es auf den Punkt.

      Dein Beispiel zeigt genau, woran es in der Integrationspolitik wirklich scheitert: nicht an den Menschen, die kommen, sondern an den Strukturen, die sie aufnehmen sollen. Wenn jemand monatelang auf einen Sprachkurs warten muss, gleichzeitig bürokratisch gegängelt wird und dann auch noch dafür kritisiert wird, „nicht integriert“ zu sein, dann ist das institutionelles Versagen.

      Das Problem ist nicht der Mangel an Willen, sondern der Mangel an politischer Priorität. Seit Jahren wird Integration als moralische Pflicht gepredigt, aber praktisch unterfinanziert. Lehrkräfte im DaF/DaZ-Bereich arbeiten oft unter prekären Bedingungen, die Kurse sind überfüllt oder zu weit entfernt und wer sich engagiert, tut das meist aus Idealismus und nicht wegen fairer Bedingungen.

      Wenn Politiker wie Merz dann so tun, als sei das Stadtbild das Problem, ist das blanker Zynismus. Denn die Realität, die du beschreibst, zeigt: Es gibt kein Integrationsproblem, sondern ein politisches Umsetzungsproblem.

      Danke, dass du das aus deiner Praxis so deutlich machst. Jede ehrliche Debatte über Integration muss genau hier anfangen: bei Bildung, Infrastruktur und Respekt vor den Menschen, die diese Arbeit tragen.

      Lorenzo

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