Ein Interview mit Nadine Rokstein

Heute möchte ich dir mal über ein Interview berichten, das ich mit Nadine Rokstein für meinem Blog geführt habe. Nadine Rokstein lebt in Bottrop und ist 1995 in Münster geboren. Witzigerweise lebt eine Cousine von mir auch in Bottrop. Wie die Welt oft klein ist. 😉

Nadine Rokstein
Nadine Rokstein

Die Kunst ist Nadines größte Leidenschaft, vor allem das Modeln und die Fotografie, aber leider bekam sie mit 16 die Symptome des Gendefektes LHON, so dass sie sich vom Berufskolleg mit dem Schwerpunkt Gestaltung verabschieden und neu orientieren musste. Sie studierte so nach ihrem Abitur Sozialarbeit. LHON betrifft die Sehnerven und verursacht in kurzer Zeit zu einem starken Sehverlust. Erst auf einem Auge und dann auf dem anderen auch. Sie kann zwar noch sehen, aber sehr eingeschränkt. Wegen ihrer Behinderung war ihr die Beratung von Menschen mit psychischer, chronischer Erkrankung und/oder Behinderung eine Herzenssache.

Daneben ist sie in den sozialen Medien aktiv. Seit zwei Jahren leistet sie dort Aufklärungsarbeit und schafft Bewusstsein. Sie schreibt sehr authentisch und spricht offen über ihre Probleme im Alltag beziehungsweise Berufsleben. Oder sie mahnt die Rechte und Inklusion für uns Behinderte an. Meine Leidenschaft, das Schreiben, teilt sie auch schon länger und wollte daraus mehr machen. So fing sie 2022 an, Journalismus zu studieren. Seit 2023 wechselte sie damit erneut ihren beruflichen Weg zur Content- und Community Managerin. Parallel bekam sie aber auch noch die Diagnosen ADHS und Asperger Autismus. Die beiden Sachen waren ein weiterer Auslöser für die berufliche Veränderung. Inzwischen hat sie sogar ein Kapitel in einem Buch geschrieben, das ab sofort vorbestellbar ist. Der Titel ist „Angry Cripples: Stimmen behinderter Menschen gegen Ableismus“. Außerdem arbeitet sie immer noch als Model.

Ich kenne Nadine beziehungsweise ihren Blog erst seit kurzem. Ich korrespondiere mit dir und lese ihre Blogbeiträge gerne. Für die Rechte, mehr Inklusion und Barrierefreiheit von Behinderten setzte ich mich ja mit meinem Blog hier und politisch in meiner Gemeinde Alveslohe auch ein. Ich bewundere Nadine und ihr Engagement sehr. Ihr Einsetzen für uns ist unbezahlbar und so wichtig. Ein großes Kompliment und Dankeschön an dieser Stelle, auch für das Interview! 😊

Und hier ist das Interview:

Nadine, wie kamst du eigentlich auf die Idee, dich für unsere Rechte einzusetzen? Was war der genaue Auslöser beziehungsweise warum war es dir eine Herzenssache, uns zu beraten?

Nadine: Als ich damals meine Diagnose bekommen habe, saß ich immer wieder an Tischen mit nicht-behinderten Menschen, die mich beraten sollten. Ich fühlte mich dann meistens unverstanden. Ich hätte mir mehr Peerberatung gewünscht. Deswegen war es mir wichtig, selbst in die Beratung zu gehen. Ich wollte, dass behinderte Menschen die Chance haben, mit einer Person zu sprechen, die sie versteht und dies nicht nur so sagt.

Als ich 2016 meine Model und Fotoseite veröffentlichte, habe ich dort über Situationen gesprochen, die mir im Alltag passieren. Meist hat es sich dabei um Vorurteile gehandelt, die mir passiert sind. Ich habe nicht viel dazu geschrieben, aber wollte schon damals auf diese Situationen aufmerksam machen. Dann fing ich Ende 2020 an Videos über Hilfsmittel in meiner Story zu posten. Aber für mich fühlte sich dies nicht richtig an. Nach 24-Stunden sollte meine Arbeit wieder weg sein? Ich wollte einen eigenen Account, entdeckte den Begriff Ableismus und weitete meine Aufklärungsarbeit aus.

Was genau fehlt dir noch? Welche Rechte müssen wir noch haben?

Nadine: Mir fehlt, dass wir zwar Rechte haben, aber wir brauchen mehr. Ich finde, dass beispielsweise Barrierefreiheit gesetzlich geregelt und verpflichtet sein sollte. Behinderte Menschen müssen stattfinden können und dürfen.

Wie weit sind wir schon mit der Inklusion aus deiner Sicht?

Nadine: Inklusion ist für mich ein Prozess. Ein Prozess, der nicht anhand von Prozentzahlen zu ermitteln ist. Inklusion wird immer stattfinden müssen. Es handelt sich um Menschenrechte, die umgesetzt werden müssen. Innovation ist nicht aufzuhalten. Und immer wieder muss darauf geachtet werden, dass Zugänglichkeiten auch für behinderte Menschen gegeben sind. Dennoch sind wir hier noch weit am Anfang und müssen endlich beginnen behinderte Menschen in alle Prozesse mit einzubeziehen und sie von Anfang an mitzudenken.

Du hast ja gerade ein Buch geschrieben. Gibt es einen besonderen Grund dafür? Worum geht es genauer darin? Erscheint es auch als Hörbuch?

Nadine: Das Buch Angry Cripples: Stimmen behinderter Menschen gegen Ableismus ist eine Anthologie mit vielen wunderbaren Autor*innen und Künstler*innen. Mein Kapitel handelt von meinen Erfahrungen als Model. Ich spreche darüber, wie Kunst inklusiv sein kann und dass sich Blindheit und Ausdruck durch Make-Up oder Kleidung nicht widersprechen. Zurzeit schreibe ich in meinem eigenen Buch. Dort spreche ich über Blindheit, psychische Erkrankungen, ADH und Autismus, Barrieren und natürlich Hunde. Ich glaube, dass unsere Gesellschaft immer offener für die Sichtweisen von behinderten Menschen wird. Ich bekomme immer wieder mit, wie aus der Szene weitere Bücher veröffentlicht werden und möchte meine Gedanken auch nun in einem Buch veröffentlichen.

Außerdem bist du immer noch Model. Wie funktioniert es? Wie hältst du den Augenkontakt mit der Kamera, wenn die Fotograf*innen es möchten?

Nadine: Nicht immer noch. Ich habe erst nach meiner Erblindung damit angefangen. Grund dafür war, dass ich selbst fotografiert habe und ein Gefühl dafür bekommen wollte, worauf man als Model achten muss und worauf ich als Fotografin immer wieder hinweisen kann. Es ist gar nicht erforderlich, permanent Augenkontakt mit der Kamera zu halten. Sollte dies jedoch mal erforderlich sein, so können die Fotograf*innen mich auch anleiten, wohin ich meine Augen bewegen soll. Außerdem geben Kameras auch akustische Signale von sich, so dass ich mich auch an diesen orientieren kann und an der Stimme der Fotograf*innen. Grundsätzlich würde ich daher sagen es läuft gut. Am besten mit Stammfotograf*innen.

Und du arbeitest inzwischen auch noch als Content- und Community Managerin. Was machst du da konkret? Für wen managst du sowas? Oder wer kann sich an dich wenden?

Nadine: Ich bin einerseits in einer Teilzeitanstellung und in einer freiberuflichen Tätigkeit. In meiner Teilzeitanstellung bin ich Content- und Community Managerin. Dort schreibe ich einerseits Artikel und führe Interviews und andererseits moderiere ich die Community von EnableMe. Dort halte ich Kontakt mit Fachexpert*innen oder sorge dafür, dass die Netiquette eingehalten wird.

Zeitgleich bin ich als Freelancerin unterwegs. Ich bin Autorin, Journalistin und Content Creatorin. Ich erstelle Content für andere Accounts, blogge, schreibe Kolumnen oder Artikel sowie nun auch Bücher. Zudem leiste ich auf Social Media Aufklärungsarbeit, die man ebenfalls unterstützen kann. Ich habe zusätzlich noch einen Workshop zum Barriere Scout gemacht. Durch meine Tätigkeiten werde ich auch als Speakerin für Themen rund um Behinderung, Inklusion und Barrierefreiheit eingeladen. Wer Interesse an einer Zusammenarbeit hat kann sich bei mir per Mail melden: nrokstein(at)gmail.com

Was hast du sonst noch vor? Gibt es schon neue Pläne oder Projekte? Mit den Seh-Einschränkungen, neuen Diagnosen ADHS und Asperger Autismus ist es sicherlich oft schwer oder? Du hast wohl trotzdem immer einen Job gefunden oder? Gegensatz zu mir: Eine kleine Anmerkung:Ich persönlich bin schon wieder über 5 Jahre arbeitslos und möchte unbedingt wieder arbeiten, aber meine vielen Bewerbungen als Bürokaufmann waren bisher erfolgslos. Zwar kann ich nicht aktiv sprechen, neben meiner Spastik, aber so dumm bin ich auch nicht. Ich habe immerhin Fachabitur. Aber ich überlege mir aktuell, ob ich Erwerbsminderungsrente beantrage, was ich höchstwahrscheinlich auch machen werde. Auf dem freien Arbeitsmarkt gibt es einfach nichts für mich. Seit meiner Ausbildung 2005 suche ich eigentlich nach einem Job und habe immer gehofft. Meistens hat es sich aber wieder schnell zerschlagen wie jetzt oder war einmal nach einiger Zeit beendet. Jetzt reicht mir es eben.

Nadine: Es ist einfach ein Unding, dass wir immer noch keinen inklusiven Arbeitsmarkt haben und es behinderte und neurodivergente Menschen auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt werden. Ich bin noch nicht lange berufstätig. Da ich selbst meine neurodivergenten Diagnosen, also ADHS und Asperger Autismus, erst letztes Jahr erhalten habe, habe ich mich nie auf die Bedarfe konzentriert. Daher habe ich auch nie richtig verstanden, warum einige Dinge für mich funktionieren und andere wiederum nicht. Als blinde Person wurde ich in Vorstellungsgesprächen immer wieder mit Vorurteilen konfrontiert. In den letzten 4 Jahren habe ich immer irgendetwas gefunden. Zurzeit suche ich eine neue Teilzeitbeschäftigung, da meine endet. Wann, wo und wie mein Buch veröffentlicht wird, kann ich heute noch nicht sagen. Schön wäre es natürlich, wenn ich jetzt schon fest sagen könnte, dass dieses Projekt nächstes Jahr veröffentlicht wird. Ansonsten sind zum jetzigen Stand noch keine großen Projekte geplant.

Wie stehst du zu den Behindertenwerkstätten? Für mich sind sie eigentlich nur wie Ghettos und haben nichts mit Inklusion zu tun. Und die Gehälter sind außerdem ein Witz. Was muss sich dort ändern?

Nadine: Eine Änderung wäre, dass dort Gehälter gezahlt werden. Menschen arbeiten Vollzeit in den Werkstätten und können ihren Lebensunterhalt nicht bestreiten. Was bei ca. 200€ auch kein Wunder ist. Das ist ihrer Arbeit gegenüber nicht wertschätzend oder anerkennend. Auch sollen die Menschen in den ersten Arbeitsmarkt inkludiert werden. Und das fordert natürlich auch Inklusion auf dem ersten Arbeitsmarkt. Nun wo Corona vorbei ist, verabschieden sich viele Stellen auch von der Möglichkeit Remote zu arbeiten. Dies in Kombination mit flexiblen Arbeitszeiten und der Möglichkeit, Teilzeit zu arbeiten, kann eine Möglichkeit zu einem inklusiven Arbeitsplatz sein. Außerdem brauchen wir nicht nur Stellen, die nur nicht-behinderte Menschen erfüllen können. Mit verschiedenen Aufgaben kann man eine Stelle erstellen, die auf die Fähigkeiten einer behinderten oder chronisch kranken Person zugeschnitten ist.

Inklusiv wäre natürlich, wenn alle Menschen am selben Arbeitsmarkt teilhaben dürften und nicht in Sonderwelten stattfinden müssten. Ich finde es wichtig, dass wir an dieser Stelle jedoch Person zu Wort kommen lassen und zu hören die Expertise aufgrund von persönlicher Erfahrung mitbringen. Denn ich habe bis jetzt keine persönlichen Erfahrungen in Behindertenwerkstätten gesammelt.

Wie geht es mit der Inklusion und unseren Rechten weiter? Machen dir die politischen Entwicklungen auch Sorgen beziehungsweise Angst? Mir schon. Vor allem, wenn der Rassismus wieder salonfähig wird. Zwar noch nicht zu mächtig, aber wir müssen schon aufpassen und wieder lauter als die rechten Stimmen sein. Habe ich da Recht?

Nadine: Wie sich die momentane Situation entwickeln wird, kann ich nicht abschätzen. Wir müssen jedoch aufpassen und uns mit den Ideologien der AfD genauer beschäftigen. Auch, wenn einem die Arbeit der momentanen Regierung nicht gefällt, so ist die AfD zu wählen keine Alternative. Nicht nur im Punkt Rassismus, sondern ebenso Ableismus und Queerfeindlichkeit. Dennoch erhält diese Partei immer mehr Stimmen. Was mir in diesen Tagen fehlt, ist eine starke Positionierung von der Regierung gegen rechts. Vor allem da die Zusammenarbeit in einigen Punkten nicht die Distanz schafft, die wir zu Parteien wie der AfD brauchen. Ich erlebe es immer wieder, dass Menschen genervt von Aktivismus sind und gleichzeitig eine große Verzweiflung, wenn wir auf die Zukunft blicken bei Themen wie der Klimakrise. Und auch das ist ein Thema, das uns behinderte und chronisch kranke Menschen betrifft.

Liebe Nadine, nochmal vielen Dank für dieses Interview!

Nadine: Ich bedanke mich ebenfalls für die nette und barrierefreie Kommunikation und die Möglichkeit hier zu sprechen.

Sehr gerne, Nadine! 😀

Lorenzo

PS: Dieses Interview ist eine unbezahlte Werbung.

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2 Kommentare

  1. Super interessant Interview, kannte Nadine Rokstein auch nicht- war gerade auf der Internetseite von Ihr und hätte bei der Betrachtung der Modellfotos wirklich nicht an Blindheit gedacht Tolle Fotos!
    Aber wichtiger ist natürlich das Engagement zum Thema LHON kannte ich bis eben auch nicht. Wirklich informativ Lorenzo.
    Das mit deinen weiteren Jobniederlagen – tut mir leid! Kann verstehen das du EMR beantragen willst. Freue mich auf weitere Interviews;)
    Herzliche Grüße Zoé

    1. Dankeschön, Zoe. 🙂 Nadine ist wirklich eine tolle Frau beziehungsweise ein tolles Model. Ihre Fotos finde ich ebenfalls klasse.

      Ja, EWR ist wohl echt am besten. Jedenfalls habe ich keine Lust mehr darauf zu warten bis jemand sich bemüßigt fühl, mich einzustellen.

      Lorenzo

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