Zwangssterilisation von Frauen mit Behinderungen: Ein europäisches Tabu, das endlich enden muss

Es gibt Themen, von denen man glaubt, sie gehörten der Vergangenheit an. Zwangssterilisation zum Beispiel. Sie sind ein dunkles Kapitel europäischer Geschichte, das mit NS-Verbrechen, Eugenik und alten Machtstrukturen verknüpft ist. Und doch musste ich gestern Abend in einem Webinar von Katrin Langensiepen, Mitglied des Europäischen Parlaments, erfahren: Die Zwangssterilisation von Frauen mit Behinderungen ist in Europa noch immer Realität. Und das ist rechtlich erlaubt. Heute. 2025.

In zwölf EU-Mitgliedstaaten ist es möglich, Frauen mit Behinderungen ohne ihre Einwilligung unfruchtbar zu machen. Ihr Körper wird nicht als ihr eigener betrachtet, sondern als etwas, das staatliche Institutionen, Einrichtungen oder Betreuer:innen im „besten Interesse“ kontrollieren dürfen.

Das ist nicht nur skandalös. Es ist eine Menschenrechtsverletzung. Und das geschieht mitten in der Europäischen Union, die sich selbst gerne als globale Vorreiterin der Menschenwürde inszeniert.

Symbolbild: Inklusion

„Schutz“ als Vorwand – Gewalt als Realität

Ein besonders perfides Argument, das im Webinar zur Sprache kam, lautet: Zwangssterilisationen dienten dem Schutz.

Der angebliche Gedankengang dahinter ist: Frauen mit Behinderungen hätten häufig „keinen freiwilligen Sex“, sondern würden Gewalt erleben. Eine Schwangerschaft würde dieses Gewaltverbrechen sichtbar machen – und das sei „schlimmer“ als die endgültige Verletzung ihres Körpers.

Das ist kein Schutz. Das ist systematische Entmündigung. Es entlarvt auch ein zutiefst ableistisches Bild, das in vielen Köpfen noch vorhanden ist: Frauen mit Behinderungen seien grundsätzlich Opfer. Oder grundsätzlich unfähig. Oder beides.

Dass stattdessen endlich Strukturen geschaffen werden müssten, um Gewalt zu verhindern und Selbstbestimmung zu fördern, kommt diesem System gar nicht in den Sinn.

Ein Europa voller Verpflichtungen – und voller Ausnahmen

Die meisten EU-Länder haben die Istanbul-Konvention unterzeichnet. Diese soll Gewalt gegen Frauen bekämpfen.

Laut UN und Menschenrechtsorganisationen zählt Zwangssterilisation eindeutig als Gewalt. Es handelt sich dabei um eine der schlimmsten Formen, da sie die körperliche Integrität irreversibel verletzt.

Und dennoch: In der EU liegt diese Form der Gewalt oft außerhalb jeder politischen Priorität. Es gibt keine Daten. Es gibt keine Statistiken. Keine öffentliche Debatte.

Stattdessen: Wegsehen. Und das systematisch.

Der Alltag: Druck, Misstrauen und subtile Eingriffe in die Selbstbestimmung

Im Alltag erleben viele Frauen mit Behinderungen genau das Gegenteil von Selbstbestimmung. Einige Beispiele aus dem Webinar und aus meinem persönlichen Umfeld:

„Du willst ein Kind? Das geht nicht. Zu kompliziert. Zu komplex.“

In Einrichtungen oder Werkstätten wird Frauen und Paaren mit Behinderungen oft einfach gesagt, dass sie keine Kinder bekommen können – oder bekommen sollten. Nicht, weil es medizinisch unmöglich wäre, sondern weil ihnen diese Fähigkeit abgesprochen wird oder der Platz fehlt.

„Dann musst du ausziehen – aber wohin?“

In vielen Einrichtungen sind schwangere Bewohnerinnen unerwünscht. Wer Mutter werden möchte, muss gehen. Aber wo finden sie geeigneten alternativen Wohnraum? Eigentlich Fehlanzeige.

„Nimm lieber die Pille, das ist besser für dich.“

Frauen berichten, dass sie massiv unter Druck gesetzt werden, hormonelle Verhütungsmittel zu nehmen, und dass sie keine echte Wahlfreiheit haben.

„Abtreibung wäre doch besser, oder?“

Selbst Frauen mit unsichtbaren Behinderungen werden in medizinischen Einrichtungen und Behörden häufig nachdrücklich gefragt, ob sie die Schwangerschaft nicht „lieber beenden“ möchten. Während dies für andere Frauen Unterstützung wäre – in Form von Beratung, Begleitung und Hilfe –, wird es für Frauen mit Behinderungen plötzlich zur Fragestunde über ihre Würdigkeit, Kinder zu haben.

Eine Doku, die weh tut – und notwendig ist

Für alle, die sich intensiver mit dem Thema beschäftigen möchten: In der Arte-Mediathek gibt es die sehenswerte Dokumentation „Kein Recht, Mutter zu sein“. Anhand persönlicher Geschichten wird darin gezeigt, wie verbreitet Ableismus und strukturelle Hürden für Frauen mit Behinderungen in Europa sind.

Die unsichtbare Seite: Auch Männer mit Behinderung erleben Entmündigung

Als Mann mit Behinderung kenne ich viele dieser Vorurteile selbst:

  • „Menschen mit Behinderungen sind automatisch asexuell.“
  • „Sie brauchen nur Hilfe – aber bestimmt keine eigenen Kinder.“
  • „Sie sind nicht intelligent genug, um Eltern zu sein.“

Ich selbst hätte gerne Kinder gehabt. Manchmal frage ich mich, ob es ohne die gesellschaftlichen Schranken anders gelaufen wäre. Das Stigma betrifft uns alle: Frauen, Männer, Paare, Jugendliche sowie alte und junge Menschen. Eine Behinderung macht einen nicht weniger menschlich. Sie nimmt einem auch nicht den Wunsch nach Nähe, Liebe, Partnerschaft, Familie und Sex.

Warum dieser Beitrag wichtig ist

Weil dieses Thema zu wenig sichtbar ist. Weil es weh tut, aber ausgesprochen werden muss. Weil Menschenrechte nie selbstverständlich sind – schon gar nicht für Menschen mit Behinderungen. Und weil wir alle darüber sprechen müssen, damit politischer Druck entsteht.

Zwangssterilisation darf nicht nur historisch aufgearbeitet werden. Sie muss sofort rechtlich abgeschafft werden – in allen EU-Staaten. In allen EU-Staaten. Ohne Ausnahme. Ohne Grauzonen. Ohne Ausreden.

Solange der Körper von Frauen mit Behinderungen nicht geschützt wird, kann die EU keine Union der Grundrechte sein.

Fazit: Es geht um Selbstbestimmung – und um nichts weniger

Frauen mit Behinderungen brauchen keine Bevormundung. Sie benötigen Unterstützung, Barrierefreiheit, Respekt, Schutz vor Gewalt und das Recht, selbst über ihren Körper bestimmen zu können.

Körperliche Selbstbestimmung ist ein Menschenrecht. Es ist kein Privileg.

Europa muss endlich handeln. Und wir müssen laut bleiben.

Lorenzo

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